Ein Schatz im Buchumschlag: Das Aderlassmännlein von Beilngries

Ein Männlein steht im Walde? Von wegen. Es liegt im Tresor. Gemeint ist das Aderlassmännlein von Beilngries. Und der Aufenthalt im Tresor macht durchaus Sinn, denn die Handschrift, deren Text eben mit einem „Männlein“ illustriert wurden ist, zählt zu den wertvollsten ihrer Art.

Wir schreiben das Jahr 1862. Die Stadt Beilngries verkauft zwölf Zentner Aktengut an eine Papiermühle. Glücklicherweise bekommt der Chronist Alois Cassian Walthierer die alten Unterlagen in die Hände und als er den Pergamenteinband des städtischen Gastgerichtsbuchs abtrennt, erlebt er eine Überraschung: Der Einband des Buches, das immerhin aus dem Jahr 1542 stammte, war noch älter. Und er hatte gar nichts mit Gerichtsdokumenten zu tun, denn als er die beiden Blätter (28,5 cm x 33,5 cm und 27,5 cm x 33,7 cm) zusammen fügte, erkannte er, dass es sich um eine sogenannte Laßtafel handelte, also eine Anleitung zum Aderlass. Und weil darauf auch eine äußerst präzise Zeichnung in Form eines jungen, schmächtigen Mannes zu sehen, spricht man vom Beilngrieser Aderlassmännlein.

Quelle: Stadtarchiv Beilngries

„Man hat das Pergament sozusagen recycelt, mit der Schrift nach innen,“ erklärt Doris Bartholme-Weinelt vom Beilngrieser Stadtarchiv. Jedenfalls wurde der Text dadurch gut erhalten. „Er war über Jahrhunderte vor Licht geschützt. Das war die beste Aufbewahrungsmöglichkeit.“ Aber wie alt das Manuskript ist, kann nicht ganz genau bestimmt werden. Sicher ist, dass es vor seinem „Recycling“ verfasst wurde. Sein Entdecker A.C. Walthierer ging davon aus, dass es am Anfang des 15. Jahrhunderts, wenn nicht früher verfasst wurde. Es gibt auch Wissenschaftler, die es in die Zeit um 1350 einordnen. Fest steht, dass das Beilngrieser Aderlassmännlein zu den ältesten Darstellungen dieser Art gehört. Der Text ist überwiegend auf deutsch geschrieben, vermutlich stammte der Verfasser aus dem Raum Regensburg. Nur die Tierkreiszeichen sind auf Latein beschrieben.

Bedienungsanleitung für den Bader

In Beilngries hat es – im Gegensatz zu Eichstätt zum Beispiel – keinen Arzt gegeben. Diese Rolle übernahm der Bader. Und damit dieser im Fall eines Falles die richtige Ader „anzapfte“, gab es eben diese illustrierte Anleitung. Allerdings war das Beilngrieser Pergament laut Doris Bartholme-Weinelt wohl nicht in einer Badestube ausgehangen, sondern am Rathaus. Ansonsten hätte das alte Schriftstück die Zeit nicht so gut und trocken überstanden.

Ein 24-Paragraphen-Text erläutert dem Bader, wie er bei welchen Beschwerden vorgehen soll. Da ist zum Beispiel zu lesen, dass ein Aderlass in der Handmitte gegen Erkrankungen der Leber hilft: „Dy ader inder Mitte auf ietweder hant Ist gut zeslahen fur di leberfäul fur die lebersücht vnd fur ander gepresten der leber vnd dez rukken“

Und so gibt es Aderlass-Stellen von Kopf bis Fuß, die unterschiedlichen Erkrankungen wie Atembeschwerden, Gallenprobleme, Harnsteine, Geschwüre, Wassersucht, Augenprobleme („Nebel der Augen“) oder auch Unruhe und Verwirrtheit zugeordnet werden. Nicht selten stimmen diese Stellen übrigens mit Akupunkturpunkten überein. Forscher gehen davon aus, dass medizinische Erkenntnisse aus dem arabischen Raum und der griechischen Antike in die damals zeitgenössischen Behandlungsmethoden eingeflossen sind. Der Aderlass war die „angesagte“ Methode auf dem aktuellsten Kenntnisstand.

Ziemlich skurril kommt einem heute allerdings die Regel der „verworfenen Tage“ vor, die ebenfalls auf dem Pergament verzeichnet ist. An vierzehn Tagen im Jahr war der Aderlass verboten und konnte sogar für gesunde Menschen verheerende Folgen haben. So ereilt denjenigen, der am auf heute umgerechneten 27. Juni („Julio an dem fünften kalend“) zur Ader gelassen wird, ein böses Schicksal: „So lazz dir nicht Oder du stirbst zehant (=umgehend) oder all dein ader vnd all dein glider encaltent dir aller ding (Gemeint war damit Rheumatismus).“ Warum welcher Tag ausgerechnet ungeeignet war, das muss noch erforscht werden, denn die Beilngrieser Regelung unterscheidet sich von anderen, die sich z.B. auf die Mondphasen bezogen haben.

Marianne Schloßer und Doris Bartholme-Weinelt sind die “Hüterinnen” dieses medizinhistorischen Schatzes.

Vom Verfasser über das Alter bis zur Systematik der verworfenen Tage: Es stecken noch viele Rätsel in diesem einzigartigen Pergament, das man nicht unbedingt in einem kleinen Städtchen im Naturpark Altmühltal vermutet. Aber eines ist auch klar: „Das Aderlassmännlein bleibt in Beilngries,“ betonen Doris Bartholme-Weinelt und Marianne Schloßer, die diesen medizinhistorischen Schatz in „ihrem“ Stadtarchiv behüten.